Nichtanwendungserlasse in der Kritik

Das Bundesfinanzministerium wehrt sich gegen die Kritik an Nichtanwendungserlassen und hält weiter an dieser Praxis fest.

Immer wie­der weist das Bun­des­fi­nanz­mi­nis­te­ri­um die Finanz­äm­ter an, bestimm­te Ent­schei­dun­gen der Finanz­ge­rich­te in ande­ren, gleich gela­ger­ten Fäl­len nicht anzu­wen­den. Die vom Bun­des­fi­nanz­mi­nis­ter immer wie­der ger­ne so titu­lier­te “Abtei­lung Pro­pa­gan­da und Agi­ta­ti­on” sei­nes Minis­te­ri­ums ver­wahrt sich nun gegen den Vor­wurf, das Minis­te­ri­um wür­de mit die­ser Pra­xis das Gebot recht­staat­li­chen Ver­hal­tens ver­let­zen. In fünf Punk­ten setzt sich das Minis­te­ri­um mit der Kri­tik aus­ein­an­der:

“Der Bun­des­fi­nanz­hof ist nicht das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt: Die Urtei­le des Bun­des­fi­nanz­hofs (BFH) bin­den nur die am Rechts­streit Betei­lig­ten. Nur eine Ent­schei­dung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts hat all­ge­mein­ver­bind­li­che Wir­kung“

Das ist zwar soweit rich­tig, aller­dings ent­schei­den die Gerich­te bei glei­cher Sach- und Rechts­la­ge nur äußerst sel­ten gegen die Prä­ze­denz­ent­schei­dun­gen des Bun­des­fi­nanz­hofs. Und daher kann jeder Steu­er­zah­ler vor Gericht mit guten Erfolgs­aus­sich­ten die glei­che Behand­lung wie im Prä­ze­denz­fall erwar­ten, womit die Finanz­ver­wal­tung so steht, als hät­te sie das Urteil gleich wie vom Steu­er­zah­ler gewünscht ange­wen­det. Aller­dings ist eine Kla­ge vorm Finanz­ge­richt mit eini­gem Auf­wand ver­bun­den und erfor­dert einen Kos­ten­vor­schuss, der auch bei einer Kla­ge­rück­nah­me nicht erstat­tet wird. Der Nicht­an­wen­dungs­er­lass führt also zu einer Ungleich­be­hand­lung, weil nur die Steu­er­zah­ler mit genü­gend Geduld und Geld zu dem für sie güns­ti­ge­ren Recht kom­men.

“Das Bun­des­mi­nis­te­ri­um der Finan­zen ent­schei­det nicht allein, son­dern im Ein­ver­neh­men mit den obers­ten Finanz­be­hör­den des Bun­des und der Län­der“

Die­ses Argu­ment führt natür­lich zu der Fra­ge, inwie­weit ein Nicht­an­wen­dungs­er­lass dadurch bes­ser wird. Auch die Begrün­dung, ein Erlass die­ne ein­zig dazu, dem BFH Gele­gen­heit zu geben, in einem neu­en Ver­fah­ren sei­ne Rechts­auf­fas­sung zu über­prü­fen, wirft Fra­gen auf. Zwi­schen den Zei­len kann man aus die­ser Begrün­dung jeden­falls die Über­zeu­gung her­aus­le­sen, in der Finanz­ver­wal­tung säßen die kom­pe­ten­te­ren Juris­ten als am Bun­des­fi­nanz­hof.

“Es gibt nur einen ver­schwin­dend gerin­gen Anteil von Nicht­an­wen­dungs­er­las­sen, näm­lich ca. 1,6%“

Auch die­ses Argu­ment kann kaum über­zeu­gen, denn ein Will­kür­akt wird nicht dadurch bes­ser, dass er nur sel­ten aus­ge­führt wird. Vom Anfang 1998 bis Ende 2008 hat der BFH 3.711 zur amt­li­chen Ver­öf­fent­li­chung bestimm­te Ent­schei­dun­gen getrof­fen. In jedem 57. Fall haben die Finanz­be­hör­den einen Nicht­an­wen­dungs­er­lass her­aus­ge­ge­ben. Das macht immer­hin mehr als 60 Nicht­an­wen­dungs­er­las­se in die­sem Zeit­raum.

“Ent­ge­gen oft geäu­ßer­ter Kri­tik kann ein Nicht­an­wen­dungs­er­lass auch zu Guns­ten der Steu­er­pflich­ti­gen wir­ken“

In die­sem Punkt hat das Minis­te­ri­um sogar recht. Dass die­ses Argu­ment eher vor­sich­tig for­mu­liert ist, hat aber sei­nen Grund: Die Nicht­an­wen­dungs­er­las­se zuguns­ten der Steu­er­zah­ler sind deut­lich in der Min­der­heit — allen­falls jeder zehn­te Erlass wirkt so. Nicht umsonst ist das Bei­spiel, das das Minis­te­ri­um auf­führt bereits sechs Jah­re alt. Außer­dem stellt sich in die­sen Fäl­len die Fra­ge, war­um die Finanz­ver­wal­tung über­haupt erst für ein letzt­in­stanz­li­ches Urteil gestrit­ten hat, wenn sie doch eigent­lich eine steu­er­zah­ler­freund­li­che­re Auf­fas­sung haben will.

“Gele­gent­lich ist ein Nicht­an­wen­dungs­er­lass unum­gäng­lich, weil sich der BFH selbst wider­spricht“

Das Minis­te­ri­um meint: Ein Nicht­an­wen­dungs­er­lass ist gebo­ten, wenn ver­schie­de­ne Sena­te des BFH unter­schied­li­che Rechts­auf­fas­sun­gen ver­tre­ten und kei­ne Anru­fung des gro­ßen Senats erfolgt. Dass man sich im Minis­te­ri­um dann aller­dings in der Regel das­je­ni­ge Urteil aus­sucht, das für den Fis­kus güns­ti­ger ist, erwähnt die Stel­lung­nah­me jedoch nicht. Außer­dem ist unklar, inwie­weit das Minis­te­ri­um auch eine Ände­rung der Recht­spre­chung des BFH unter die­sem Punkt sub­su­miert — denn auch dar­auf reagiert man ger­ne mal mit einem Nicht­an­wen­dungs­er­lass, wenn sich eine Geset­zes­än­de­rung nicht schnell genug rea­li­sie­ren lässt.

Fazit: Mit die­ser Ver­tei­di­gungs­schrift wird das Minis­te­ri­um kaum einen Steu­er­ex­per­ten außer­halb der Finanz­ver­wal­tung von der Pra­xis der Nicht­an­wen­dungs­er­las­se über­zeu­gen kön­nen. Und auch nor­ma­le Steu­er­zah­ler tun gut dar­an, den heh­ren Moti­ven, die sich das Minis­te­ri­um zuschreibt, zumin­dest miss­trau­isch zu begeg­nen. Bleibt es bei der Pra­xis, so bleibt auch die Ungleich­be­hand­lung der Steu­er­zah­ler bestehen zwi­schen den­je­ni­gen, die sich den Mühen eines finanz­ge­richt­li­chen Ver­fah­rens unter­zie­hen, und den­je­ni­gen, die ange­sichts der Wei­ge­rung des Finanz­amts resi­gnie­ren.

Kri­tik­wür­dig bleibt die Pra­xis jeden­falls allein schon des­we­gen, weil das Minis­te­ri­um auch ein­fach eine Geset­zes­än­de­rung ver­an­las­sen könn­te, die dann nicht nur die Finanz­ver­wal­tung bin­den wür­de — schließ­lich kom­men die Ent­wür­fe für Geset­zes­tex­te fast aus­nahms­los aus dem Haus des Bun­des­fi­nanz­mi­nis­ters. Doch ent­we­der hat man Angst, die eige­ne Auf­fas­sung im poli­ti­schen Pro­zess nicht durch­set­zen zu kön­nen oder man scheut die damit ver­bun­de­nen Mühen. So oder so gibt es neben der Finanz­ver­wal­tung kei­nen ande­ren Zweig der Exe­ku­ti­ve, der von Zeit zu Zeit so offen­kun­dig höchst­rich­ter­li­che Urtei­le igno­riert.